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Auszug aus Helmut Seethalers Pflückbuch:
20 Was? Ein Pflück-Buch?
Bisher lehnte ich alle Angebote ab. Es wären nur normale Bücher geworden. Meine Texte hätten ihre Lebendigkeit verloren. Aber ... ein ... was? Wie soll das gehen? Was soll das sein? Ich zögere. Ich nehm es nicht ernst.
Ich wähle 350 meiner Zettel aus. Sie sollen Zettel bleiben. Aber umschlossen von Buchdeckeln und je 10 Seiten vorne und hinten, auf denen die ersten 21 Jahre der Zettel-Literatur-Verbreitung dokumentiert werden.
Chance, auch die zu erreichen, die geographisch bisher nicht erreicht werden konnten. Und ein Buch macht meine Arbeit auch für die seriöser, die für meine Zettel bisher nur abwertendes Lächeln bereit hatten. Auf die wollte ich bisher verzichten. Es gab so viele andere, die gerade deshalb, weil es mich nicht in Büchern gab, zu treuen Lesern und Leserinnen wurden.
Ich will nicht käuflich sein, will nicht Ware werden. Aber manchmal hatte ich so total nichts, daß ich mich absichern muß - auch mit einem Buch, damit so eine geldliche Krise nicht mehr kommt.
Mein Verleger sprach lange über die Möglichkeiten (s)eines Verlages und meines persönlichen Buchs. "Ich brauch das nicht, ich bin nicht auf den Buchmarkt angewiesen." Ich war bockig wie ein kleines Kind, das sein Spielzeug in Gefahr sieht. Aber ich darf mein Spielzeug ja behalten, darf weiter die Welt bekleben. Auch die Zettel, die im Buch sind, bleiben als Zettel lebendig. Sie werden nur tiefgekühlt, durch das Lesen und Herausnehmen wieder aufgetaut. Das Buch ist nach dem Lesen entfernbar. Es ist nur Packung.
Ich soll nicht dauernd nur jene Zettel bei meinen kommenden Aktionen verbreiten, die auch als Zettel mittels Buch verbreitet werden. Ich hab genug andere, außerdem entstehen immer neue.
Angst vor Ungewissem. Und doch Hoffnung darauf. Ich darf aber nicht zu bekannt werden. 1994 wurde es an manchen Tagen zuviel. Siehe Punkt 14. Da blieben immer mehr bei meinen Aktionen stehen, weil gerade wieder etwas in den Medien über mich war. Und jetzt? Angst vor Buch.Kritiken. Vorm Zer-Pflückt-Werden. Denn nur das Pflücken bin ich gewohnt. Die harte Kritik, der ich täglich ausgesetzt bin, stammt direkt vom Publikum, nicht von Profi-Kunst-Kritikern, die dem Publikum erkläern (müssen, dürfen, sollen), was es als gut und lesenswert zu finden hat.
Du machst Werbung für Dein Buch. Das ist die größte Angst. Das werden mir viele vorwerfen. Ich werde es nicht entkräften können. Es wird mir peinlich sein. Ich werde herumreden und darauf bestehen, daß ich mit meinen Zetteln keine Werbung für das Buch mache. Aber. Zuviele Aber. Also doch kein Buch. Ich ruf ihn an, den großen starken Mann. Ich hab nichts unterschrieben, bin doch nicht überzeugt.
Ich bin verunsichert. So unleidlich zu meinen 3 Kindern und meiner Lebenspartnerin. Was können die dafür. Bisher war ich meist ein lustiger, freundlicher, liebevoller Vater. Jetzt werd ich leicht grantig und hör mich schreien. Das bin doch nicht ich? Das bin ... ich auch? Nur weil ich eine Entscheidung treffen muß, die alle bisherigen (zer)stören wird? Oder geht alles weiter wie gewohnt ... mit Millionen Zetteln in vielen Orten des Sprachraums, nur gestärkt durch tausende Plfück-Bücher, die mich wie tausende Krücken begleiten und mir das Fortkommen - nicht nur als Künstler erleichtern?
Und wieviele wird es geben, die mich schon lange gern gepflückt und gelesen hätten, meinen Aktionen aber nie begegnet sind - und erst jetzt durch dieses Buch und dessen Medien-Echo zum 1. Mal auf diese Kunstform aufmerksam wurden?
So dient eine alte Kunstform, die ich bisher ausgeschlossen habe, als Transportmittel für ene neue. Ob es bei den Lesenden so wirkt wie geplant, das muß ich erst erfahren. Meine Adresse gibt es 350 Mal in diesem Buch. |
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